Wir haben es satt!
Schon bei der Anreise zum Demoauftakt am Potsdamer Platz mit der S-Bahn fällt auf, wie viele Mitreisende ebenfalls dorthin streben. Teilweise erkennt man sie an aufgeschnappten Gesprächsfetzen, teilweise aber auch an Transparenten oder phantasievollen Kostümen. Vor mir in der Bahn steht eine junge Frau, die sich als Marmeladenglas verkleidet hat! „Marmelade für alle“ lautet ihr Slogan – eine lustige, unverkrampfte Art für vegetarische Ernährung zu werben! Aber auch einige Landwirte sind unterwegs, erkenntlich teilweise an landschaftstypischer Kleidung, vor allem, wenn sie aus Süddeutschland kommen. Man kommt sofort miteinander in Gespräch, alle sind sehr offen und interessiert.
Der Potsdamer Platz ist schon eine Dreiviertelstunde vor Beginn gut gefüllt, aber man hat noch die Möglichkeit, durch die Reihen zu schlendern und viele alte Bekannte und Mitstreiter zu treffen. Jahrelange Zusammenarbeit in verschiedenen Bündnissen hat uns zusammenwachsen lassen – Menschen aus den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittelhandwerk, Umweltschutz, Tierschutz, Entwicklungsarbeit, Verbraucherschutz usw. Wir haben uns kennen und schätzen gelernt und wissen, dass wir unsere Ziele nur gemeinsam erreichen können.
Was auch dieses Jahr wieder auffällt, ist die Vielfalt der Besucher, die einen repräsentativen Querschnitt unserer Gesellschaft darstellen. Viele sind durch ihre Utensilien gleich erkennbar, hier wieder einmal besonders eindrucksvoll die vielen Imker, aber viele sind auch ganz normale, engagierte und nachdenkliche Bürgerinnen und Bürger, darunter erfreulich viele junge Leute. Es herrscht eine fröhliche, erwartungsvolle und optimistische Atmosphäre – alle freuen sich, dass wir so viele sind und immer mehr werden! Dieses Jahr besonders eindrucksvoll ist der Treckerkorso mitten durch die Menge der Demonstranten – die Bauern führen den Zug an, sie sind das Salz in der Suppe dieser Demo! Als sich die Traktoren in Bewegung setzen, jubelt ihnen die Menge zu, manche Teilnehmer sind sehr gerührt. Von Bauernfeindlichkeit ist weit und breit nichts zu spüren, im Gegenteil, alle hier wissen, ohne die Bauern läuft nichts in Hinblick auf eine andere Landwirtschaft! Hier ist der Ort, um als Landwirt mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die Auswüchsen und Irrwegen der industriellen Landwirtschaft kritisch gegenüberstehen – ein ganz wichtiges Signal auch an die Teilnehmer der „Gegendemo“ vor dem Bahnhof. Sie stehen allein und isoliert am falschen Platz, haben sich das aber leider selbst so ausgesucht.
Der lange Zug braucht Stunden, um den Weg zum Kanzleramt zurückzulegen. Unterwegs herrscht teilweise Volksfeststimmung – Musik- und vor allem Trommlergruppen machen Stimmung, Sprechchöre werden angestimmt, Stelzenläufer sind im Zug, man kann gar nicht alle phantsievollen, klugen und witzigen Banner und Schilder wahrnehmen. Die Menge feiert sich auch ein bisschen selbst, das Gemeinschaftsgefühl, das Einstehen für eine gute Sache, den großen Zulauf. Das für die Jahreszeit sehr schöne Wetter trägt zu guten Stimmung natürlich auch bei. Ab und zu sehe ich ein Schild, dessen Slogan mir sauer aufstößt, militante Veganer und Tierrechtler lassen manchmal Toleranz vermissen, teilweise stehen sie auch, aus Seitenstraßen kommend, mit ihren verqueren Botschaften am Rande des Zuges, aber die meisten lassen sie kopfschüttelnd links liegen. Die Rufe einer extremen Gruppe werden von Trommlern des NaBu übertönt. Man kann keinen daran hindern, sich mit seiner auch noch so seltsamen Botschaft in diesen Zug einzuschmuggeln, aber an der großen Mehrheit der gutwilligen Teilnehmer prallt das ab.
Die Reden zum Auftakt und zum Abschluss, besonders von Georg Janssen und Hubert Weiger, betonen noch einmal das gemeinsame Einstehen für eine bäuerliche Landwirtschaft. Alle Treckerfahrer stehen zum Abschluss gemeinsam auf der Bühne und werden von den Menschen gefeiert. Über den Prozentsatz der teilnehmenden Landwirte kann man trefflich streiten, aber jede Bäuerin, jeder Bauer kann hier unbesorgt teilnehmen und einmal das Gefühl genießen, dass sich Zehntausende Menschen für eine gesellschaftsverträgliche, bäuerliche Landwirtschaft und für den Erhalt unserer Höfe einsetzen!